Sicher haben Sie schon in das ein oder andere schmerzverzerrte Gesicht beim Krafttraining geblickt. Gut möglich, dass Sie jemanden an seinem Limit beobachtet haben. Wie man jedes Mal mitleidet! Oder Sie haben sich selbst schon mal so viel Gewicht auf die Langhantel gepackt, dass beim besten Willen genau eine Wiederholung möglich ist. Aber ist der Schmerz die Mühe wert? FITBOOK klärt über den Nutzen von Training bis zum Muskelversagen auf.
Führen Sie beim Krafttraining eher eine bestimmte Anzahl an Wiederholungen einer Übung aus – oder gehen Sie an Ihre Grenze und machen so lange weiter, bis der Muskel zumacht und überhaupt nichts mehr geht? Letzteres nennt man Training bis zum Muskelversagen. Doch ist das wirklich effektiv und notwendig, wenn das Ziel Muskelaufbau lautet?
Bei einem Muskelversagen können die Nerven, die Muskelfasern ansteuern, gleichzeitig nicht mehr ausreichend viele von ihnen aktivieren. Fachlich unterscheidet man zwischen konzentrischem sowie exzentrischem Muskelversagen. Im ersten Fall kann ein Gewicht kein weiteres Mal nach oben geführt werden (z. B. Bankdrücken der Langhantel); bei Letzterem ist das Herablassen bzw. Zurückführen des Gewichts nicht mehr möglich. Muskelversagen ist aber nicht auf das Training mit Gewichten beschränkt, selbstverständlich kann man auch mit Eigengewichtsübungen an dieses Limit stoßen.
Angeblich – so hört man es immer wieder aus dem Mund von Fitnessfreaks – soll jene Ausführung bis zum Muskelversagen (neben Belastung und Spannung) eine Voraussetzung für den Muskel-Wachstumsreiz sein. Heißt: Wer Push-ups, Kniebeugen oder andere Übungen nicht bis zur völligen Ermüdung macht, erreicht kaum Muskelwachstum. Was ist dran an dieser These? Interessante Antworten finden sich in einer Studie aus Brasilien aus dem Jahr 2017.
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Die im „European Journal of Translational Myology“ erschienene Untersuchung hat sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit Muskelversagen beim Krafttraining nötig ist, wenn man auf Hypertrophie, also Muskelwachstum, abzielt. Für die Untersuchung wählten die Forscher der Universität von Brasília insgesamt 89 junge, sportlich aktive Probandinnen, die in drei Gruppen eingeteilt wurden.1
Über einen Zeitraum von zehn Wochen trainierte die erste Gruppe bis zum Muskelversagen: drei Sätze bei 70 Prozent des Maximalgewichts, mit dem man genau eine Wiederholung schafft, auch „One Repetition Maximum“, kurz: 1RM, genannt.
1RM ist das maximale Gewicht, mit dem man genau eine Wiederholung einer Übung bei sauberer Technik ausführen kann. Dementsprechend sind 5RM das maximale Gewicht, mit dem man fünf Wiederholungen schafft (auf verschiedenen Seiten man das persönliche 1RM berechnen lassen, unter anderem hier).
Die zweite Gruppe trainierte zwar nicht bis zum Muskelversagen, dafür hatten die Wissenschaftler das Trainingsvolumen jedoch an die erste Gruppe angepasst: vier Sätze à sieben Wiederholungen bei 70 Prozent des 1RM. Die dritte und letzte Gruppe trainierte weder bis zum Muskelversagen, noch p asste man ihr Trainingsvolumen (drei Sätze à sieben Wiederholungen bei 70 Prozent des 1RM) an das der ersten Gruppe a n. Trainiert wurden zweimal in der Woche beidseitige Bizeps-Curl s.
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Die Forscherinnen und Forscher der Studie zogen ein Fazit, das Freunden submaximalen Trainings durchaus zusagen dürfte. Denn sowohl das Training bis zum Muskelversagen als auch das Training ohne Muskelversagen, aber mit angepasstem Volumen führte zu einer signifikanten Hypertrophie , also Muskelwachstum. Im Gegensatz zum Übungsablauf bei der dritten Gruppe. Muskelversagen scheint also kein Muss zu sein, will man sein Muskelwachstum möglichst schnell ankurbeln. Vielmehr muss augenscheinlich – basierend auf der Anzahl der Wiederholungen – eine bestimmte Reizschwelle überschritten werden, um hypertrophische Trainingseffekte zu erzielen. Dabei könnte es dann auch egal sein, ob nach Überschreiten dieser Schwelle noch weitere Wiederholungen bis zum Muskelversagen angehängt werden.
Timo Kirchenberger, professioneller Athletiktrainer und Personal Trainer aus Berlin, rät insbesondere Anfängern grundsätzlich von Training bis zum Muskelversagen ab. Dadurch würden sie gerade zu Beginn, wenn die Technik besonders wichtig ist, grobe Fehler machen. „Der Körper würde sich das merken und ein zu hohes Belastungsrisiko eingehen“, so Kirchenberger. Nötig sei es auch nicht. Denn im Körper passiere auf jeden Fall etwas, „wenn wir entsprechend schwer trainieren, aber sauber!“ Darüber hinaus rät der Experte, beim Krafttraining immer die Wiederholungen zu zählen. Aus welchen Gründen, hat er hier erläutert.
Die Ergebnisse von Mortelli et al. werden von verschiedenen früheren Studien gestützt. So brachte eine 2012 veröffentlichte Untersuchung Training bis zum Muskelversagen mit einer verringerten Muskelkraft sowie muskulären Stoffwechselstörungen in Verbindung.2 Eine andere Studie zog ebenfalls das Fazit, dass Wiederholungen bis zum Muskelversagen keinen Vorteil beim Muskelaufbau im Vergleich zu submaximalen Wiederholungen mit sich bringen. 3 Mortelli et al. weisen je doch darauf hin, dass die Untersuchung nicht ohne konzeptuelle Schwächen ist.
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Das alles soll nicht heißen, dass es nicht auch Untersuchungen gib, die verbesserte Trainingseffekte bei Wiederholungen bis zum Muskelversagen festgestellt haben. Aber die Studie von Mortelli et al. macht eben deutlich: Das Gleichsetzen von Muskelversagen mit Muskelaufbau ist definitiv zu kurz gegriffen.
Zudem bietet die Trainingsform ohne Muskelversagen einen möglichen Vorteil: den einer (wahrscheinlich) schnelleren Regeneration. So lässt sich aus den Erkenntnissen eine nächste spannende Fragestellung ableiten. Wenn submaximales Training (bei hohem Volumen) bedeutet, dass man schneller wieder trainieren kann – und damit insgesamt auch häufiger –, ist es am Ende vielleicht sogar effektiver als e in Workout bis zum Muskelversagen?