Jetzt hat es der grandiose Ost-Berliner Zeichner und Holzschneider Jürgen Wittdorf postum sogar ins Schloss Biesdorf geschafft.
Die DDR im Jahr 1964: Walter Ulbricht war der allmächtige Staatschef und sein Lieblingsbild Womackas „Paar am Strand“ von 1962. Das hing auch als Kopie in vielen Jugendzimmern. Die brav idealisierende Romantik ließ die Enge ein wenig vergessen.
Ulbricht war auch ein großer Förderer des Sports. Körperliche Ertüchtigung zum Wohle der Volksgesundheit war ihm nachgerade eine Mission. Wie also wäre der Berliner Künstler Jürgen Wittdorf, Jahrgang 1932, da mit seinen markanten Grafikzyklen „Jugend und Sport“ und „Jugend“ in den Verdacht geraten, in seinem Privatleben nicht der heterosexuellen Norm zu entsprechen? Die Reproduktionen seiner Szenen aus dem Alltag junger Leute waren gefragt. Das waren keine pathetischen Arbeiter- und Bauernhelden. Manche glichen eher dem amerikanischen Jugendidol James Dean.
Wittdorf malte und zeichnete junge Suchende in Lederjacken und Jeans, mit ihren Träumen und Sehnsüchten, in Gruppen, mit Mopeds und Motorrädern, beim Rock 'n' Roll, am Ostseestrand. Für einige Kulturfunktionäre waren das „Halbstarke“, sie nannten das „verwestlicht“. Umso mehr liebte die Jugend diese Bilder. Eins davon erlangte geradezu Starkult seit der Veröffentlichung in der Zeitschrift Magazin: ein junger Mann mit Baby und Einkaufsnetz; Titel: „Noch kein Bartwuchs und schon Vater“.
Und eigentlich waren all die Motive doch „auf Linie“. Jürgen Wittdorf glaubte an die Ideale des Sozialismus. Dass er schwul war, wurde nicht thematisiert, nicht von ihm, nicht vom Verlag und der Redaktion Junge Welt, die seine Zyklen als Mappenwerke druckte, als Sondereditionen anbot und in der Zeitung veröffentlichte. Ein Outing mitten in der post-stalinistischen Ära? Undenkbar! Heiner Carows legendärer Film „Coming out“ kam erst am 9. November 1989 in die DDR-Kinos. In der Nacht fiel die Mauer.
Wittorfs sexuelle Präferenz blieb eher offenes Geheimnis in der Nischengesellschaft. Er zeichnete die nackten Körper junger Männer und ihre Gesichter von so vollkommener Schönheit und oft auch Verletzlichkeit, mit Hingabe, Zärtlichkeit und mit Humor. Eine gewisse Wahlverwandtschaft zu Alten Meistern, denen man Homoerotik nachsagt, wie Michelangelo, Leonardo, Caravaggio, fällt auf. Die vielen Frauenmotive gelangen Wittdorf durchweg sympathisch, respektvoll. Allerdings wirken seine athletischen Schwimmerinnen und die Mädchen in den Jugendgruppen mit Mopeds oder beim Tanz eher asexuell: Die Frauen sind hübsch, aber Staffage. So ganz anders als die Körper der jungen Männer, ob angezogen oder nackt.
„Unter der Dusche“, 1964, ist einer der absoluten Hingucker an den Wänden von Schloss Biesdorf. Das kommunale Ausstellungshaus Marzahn-Hellersdorf richtet dem 1932 geborenen Wittdorf im Gedenken an dessen 90. Geburtstag soeben eine große Retrospektive aus. Den großformatigen Holzschnitt steuert ein privater Sammler bei, ein Schwarz-Weiß-Motiv von größter Zwanglosigkeit – eine geradezu arkadische Szene: virtuos gezogene Körperkonturen klassisch mit dem Hohleisen ins Langholz geschnitten. Andere Werke für diese fulminante Retrospektive besorgten die Kuratoren Stephan Koal und Karin Scheel als Leihgaben vor allem aus der privaten Sammlung Linkersdorff und vom Schwulen Museum.
Das Prototyp-Mappenwerk seiner Edition „Zyklus für die Jugend“ hatte Wittdorf noch dem Schwulen Museum geschenkt. Aber alles, was nach seinem einsamen Tod 2018 in der Friedrichshainer Wohnung verblieb, auch die nun in Biesdorf ausgestellten Keramiken, die Porträts und Selbstporträts, die meisterlichen Akte, landete beim Trödler. Auch die vielen faszinierenden, die geniale Beobachtungsgabe belegenden Tierbilder von Zebras, Elefanten, Nilpferden, Kamelen entstanden zumeist im Berliner Tierpark. Nur durch Zufall entdeckte Jan Linkersdorff die Werke zwischen dem Ramsch. Er hatte in den 1980er-Jahren bei Wittdorf Zeichenunterricht genommen und ersteigerte bei der Nachlassauktion, was wir jetzt staunend sehen im Schloss. Das alles in einem Schloss! Das hätte Wittdorf sich nie träumen lassen.
Großartig sind die subtilen und humorvollen Aktszenen, wo Bezüge zu den ikonischen Arbeiten schwuler Künstler aus dem Westen, so David Hockney oder Tom of Finland, unübersehbar sind. Diese Bilder kannten nur engste Freunde. 1969 kam es zur ersten Reform des Paragrafen 175. Sie stellte Männerliebe unter Erwachsenen nicht mehr unter Strafe. Gestrichen wurde der unsägliche Paragraf allerdings erst 1994 im wiedervereinten Deutschland.
Wand für Wand ist zu sehen, was da für die Nachwelt und vor dem Vergessen gerettet wurde: Wittdorf, Absolvent der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst und einst Meisterschüler von Lea Grundig an der Ost-Berliner AdK, konnte meisterlich malen, mit Rötel und Tusche zeichnen, in Holz schneiden und lithografieren. Doch nach dem Ende der DDR bekam er keinen einzigen Auftrag mehr. Für den westlichen Kunstgeschmack galt sein klarer, naturnaher, moderner Stil abwertend als „sozialistischer Realismus“. Er wurde krank, schwer dement, lebte im Dämmerzustand und starb ohne Testament, es gab keine Erben. Möbelpacker räumten die Wohnung aus, mehr als 200 Bilder und expressiv bemalte Keramik. Alles kam vor 2018 zu besagter Nachlassauktion, um die Schulden beim Sozialamt zu tilgen. Linkersdorff brachte das Geld auf.
Es nimmt sich aus wie eine Tribut-Aktion, dass vier Künstlerinnen und Künstler aus der heutigen queeren Szene mit ihren Werken zu denen des so bitter geendeten Kollegen eine Korrespondenz suchen: Norbert Biskys Bilder über den Verfall und Kollaps der DDR, Harry Hachmeisters ambivalente Keramikgebilde, Bettina Sammers mit Geschlechteridentitäten spielende Aktzeichnungen und Veneta Androvas Film zu Genderfragen sind erlebbar als Wittdorfs ehrende Referenzen.
Schloss Biesdorf, Berlin-Alt-Biesdorf 55, bis 10. Februar 2023, Mi.–So. 10–18/Fr. 12–21 Uhr