Die Berner Weltklasse-Sprinterin und aktuelle Hallen-Weltmeisterin bereitet sich mit grosser Motivation und viel Zuversicht auf die Saison vor. Das eingespielte Team mit Trainer Adrian Rothenbühler will weiter Grenzen verschieben.
Der erste Gedanke? Aufhören! Das Gewicht, das sich Mujinga Kambundji im Kraftraum im Untergeschoss des Leichtathletik-Stadions Wankdorf an diesem Morgen auf die Schultern legt, scheint alles andere als kompatibel. So viel Kraft auch im Körper der Hallen-Weltmeisterin über 60 m stecken mag, so grazil und geschmeidig bleibt doch ihr Erscheinungsbild.
Umso mehr beeindruckt, mit welcher Explosivität die 29-Jährige die 160 Kilogramm nach oben wuchtet. Trainer Adrian Rothenbühler steht mit dem Handy daneben. Ein Programm zeichnet die Werte jeder dieser Bewegungen auf – jeweils drei am Stück mit einer mehrminütigen Pause dazwischen und stets leicht erhöhtem Gewicht.
Kambundji ist auch im Kraftraum kompetitiv. Ist es im Rennen ein Duell mit den Gegnerinnen, so heisst die Konkurrenz hier Langhantel. Unmittelbar nach jeder Dreierserie will sie wissen, wie gut die von den Sensoren aufgezeichneten Werte sind. Dieser «Velocity»-Ansatz im Training fokussiert auf ein direktes Feedback jeder Bewegung. Anpassungen können dadurch sofort erfolgen. Fein säuberlich schreibt die Athletin Ausführung und Resultate jeder einzelnen Übung in ihr schwarzes Notizbuch – seit vielen Jahren.
Adrian Rothenbühler ist mit der nüchternen Ruhe, die er ausstrahlt, ein perfekter Gegenpart zur neugierig und eifrig wirkenden Berner Sprinterin. Mujinga will vom 49-jährigen Emmentaler wissen, wie er ihre Kraftwerte interpretiert. Er fokussiert auf die technisch korrekte Ausführung, denn mit dieser Form von Krafttraining wird das Nervensystem aktiviert. Und später auf der Bahn muss jeder Impuls genau passen.
Nach den Olympischen Spielen in Tokio hat Rothenbühler sein 80-Prozent-Pensum in Magglingen als Trainerausbildner zeitlich halbiert, um neben der jüngeren Schwester Ditaji auch Mujinga Kambundji hauptsächlich zu trainieren. Als Betreuer steht er ihr schon seit vielen Jahren zur Seite. Nun trägt er die Hauptverantwortung. Es ist eine offene, ehrliche und letztlich freundschaftliche Zusammenarbeit. «Das Vertrauen zueinander ist gross», sagt die Athletin.
Wobei der Schweizer Trainer des Jahres 2019 betont, dass Mujinga Kambundji eine überaus selbstständige Sportlerin ist. «Sie hat auch bei den Trainingsplänen das letzte Wort». Er selbst sei früher als Trainer «sehr plangläubig gewesen». Aber gerade die Zusammenarbeit mit Mujinga habe ihm gezeigt, wie dynamisch solche Trainingspläne sein müssen. «Ich übernehme gerne die Verantwortung», sagt die Sprinterin dazu. «Eine Athletenkarriere ist ja auch viel kürzer als eine Trainerkarriere. Deshalb ist es richtig, dass ich das letzte Wort habe.»
Wie gut ihr gemeinsamer Weg funktioniert, hat die 29-Jährige an der Hallen-WM im März in Belgrad mit dem Gewinn ihres ersten grossen Titels auf Weltniveau bewiesen. Die 6,96 Sekunden über 60 m waren die schnellste Zeit einer Sprinterin seit 1998 und die viertschnellste in der Geschichte. Gleich um sieben Hundertstelsekunden pulverisierte Kambundji ihre bisherige Bestmarke.
«Dieses Resultat gibt deshalb viel Selbstvertrauen, weil es bestätigt, dass immer mehr Details funktionieren, wie sie sollten. Das ermöglicht ein äusserst zielgerichtetes Training», sagt Kambundji. Euphorie spürt sie wegen des Sieges allerdings nicht «Sowohl Erfolge wie auch Enttäuschungen liefern starke Emotionen. Eine Niederlage kann mich ebenfalls stark motivieren.»
Wobei die Motivation bei ihr auch nach zehn Jahren Leistungssport kein Problem ist. Denn einmal mehr hat die Schweizer Sportlerin des Jahres 2019 in Belgrad ihre Grenzen verschoben. Das tut sie seit Jahren erfolgreich. Um das Verschieben ihrer Grenzen geht es Kambundji auch in der anstehenden Outdoor-Saison mit Weltmeisterschaften im Juli in Eugene und Europameisterschaften im August in München als Höhepunkt.
Sie redet nicht von Rangzielen, auch nicht von konkreten Zeiten. Kambundji sagt nur: «Ich habe auch jetzt das Gefühl, dass ich noch deutlich schneller rennen kann. Ich weiss aber nicht, was dies letztlich auf der Zeittafel bedeutet. Auf die Antwort bin ich selbst gespannt.»
Zurück zum Training. Am Ende der dreistündigen Einheit stehen neben Startübungen auf der Bahn und Hanteltraining im Krafttraum noch Treppensprünge auf der Tribüne an. Das ist definitiv nicht Mujinga Kambundjis Lieblingsbeschäftigung.
Trainer Rothenbühler lacht und sagt: «Schade ist ihre Schwester Ditaji nicht hier. Dann hätte man den direkten Vergleich. Und würde erkennen, dass Mujinga ziemlich alt aussieht.» Kambundji lächelt gequält, bleit stumm und stürmt abermals die Treppe hoch. Ihre Antwort folgt im Sommer auf der Bahn.