Theo Strippel, der heute seinen 60. Geburtstag feiert, ist am Eulenkopf geboren, fünf Brüder, zwei Schwestern, ein echter Gießener.
Gießen . »Moin, Schmaler«, sagt er zur Begrüßung an diesem Morgen Mitte August. Registriert man mit 57 Jahren jetzt einfach mal als Lob, auch wenn man weiß, dass was anderes gemeint ist. Nämlich nett und neckisch, weil man schon zugeben muss, dass von der Muskelmasse her zwei eigene Arme plus noch ein bisschen eigener Oberschenkel wohl einen Oberarm des Grüßenden ergeben. Und dann gibt’s die Ghetto-Faust zur Untermalung der Begrüßung.
Es war 1995, da habe ich ihn das erste Mal getroffen, die erste Geschichte geschrieben. Theo Strippel im Vereinsheim des Athletikclub Eulenkopf Gießen, er liegt unter einer Hantelstange, die an sich schon 12 Kilo wiegt, links und rechts hängen mächtige Wagenräder daran, 120 Kilo wuchtet er in mehreren Wiederholungen à zehn Versuchen zum Warmmachen, dabei pfeift er La Paloma, weil er daran dachte, sich mit der Nummer bei »Wetten, dass« zu bewerben. Wenn es ernst wird im Wettkampf, hebt der wuchtige Mann, der im Stehen um die 1,95 Meter messen würde, schon mal 240, 250 Kilogramm. Theo Strippel ist zwischenzeitlich Weltrekordhalter im Bankdrücken, auch Powerlifting genannt. Er reist mit dem Nationalteam zu den Paralympics nach Atlanta und Sydney, er wird Weltmeister in Kanada, er bringt die Modell-Athletin Tamara Althaus zu einem Allzeitrekord, der nie geknackt werden wird. In der Gewichtsklasse bis 56 kg hebt sie 160 kg, neunfache Weltmeisterin, in den USA, wo Powerlifting riesige Hallen füllt, wird die kleine, starke Frau auf Schultern zur Siegerehrung getragen.
»Da bekomme ich jetzt noch Gänsehaut, wenn ich dran denke«, sagt Theo Strippel, der heute, am 26. August, seinen 60. Geburtstag feiert. Theo ist am Eulenkopf geboren, fünf Brüder, zwei Schwestern, er ist ein echter Gießener. Von seinen Vorfahren einerseits väterlicherseits reisendes Volk, andererseits halbjüdisch, die Großmutter mütterlicherseits ist deshalb im KZ gestorben. Am Eulenkopf, so erzählt er in all den Jahren immer mal wieder, »war man früher stigmatisiert, die aus dem Brennpunkt waren in der Stadt unten nicht wohlgelitten. Wenn man als Jugendlicher gehänselt wurde, dann gab es eine drauf.« Strippel ist 1962 geboren, hat noch in der Blechwanne im Keller gebadet, weil es sonst keine Möglichkeit, kein heißes Wasser gab. Für den Eulenkopf hatte die Stadt lange Jahre weder vernünftig asphaltierte Straßen noch Elektrifizierung übrig. Eine deutsche Randnotiz.
»Als Kind wollte ich immer zur Marine, ich wollte zur See fahren und eine Ausbildung zum Koch machen«, erzählt Strippel. Und irgendwann über Kanada in die USA und dort arbeiten, leben. »Die Wälder, die Wildnis, die Weite, das wäre meins«, sagt er. »Da kann man durchatmen, ist nicht eingeengt.« Theos Mutter, Anni Strippel, vor sechs Jahren gestorben, war eine herzensgute Frau, von der man zur Begrüßung immer einen dicken Schmatzer und eine allerherzlichste Umarmung bekam. Sie sagt damals ihrem Sohn: »Warte mal ab, solche Wünsche ändern sich.« Aber Theo wollte seine Wünsche nicht ändern. Raus, nur raus in die weite Welt. Bei der Musterung zur Bundeswehr gab er an, freiwillig zur Marine zu wollen - der Wunsch bekam ein reales Gesicht, aber das Leben änderte alles. Verdammtes Leben.
Denn Theo Strippel feiert, das sagt er auch so, nicht nur einmal Geburtstag, sondern zweimal. 1980 ist er fast gestorben, mit 18 Jahren, in einem Alter, in dem Wünsche und Pläne bei jungen Menschen Flügel bekommen, stürzte er ab. Von einem Baum am Eulenkopf. Er wollte abhauen vor der Polizei, es hatte Stress gegeben. Dann lag er da, konnte sich nicht mehr bewegen, Querschnitt. Als er von der Intensivstation runterkam, dann nach Bad Wildungen zur Reha, kam die Einberufung. Marine wäre es geworden. Das Schicksal ist ein mieser Verräter. Heute lacht Theo einerseits, denn »die wollten mich mit dem Feldjäger holen lassen, weil ich nicht zum Termin erschienen bin.« Und er sagte einmal nachdenklich: »Wer weiß, wenn ich nicht im Rollstuhl sitzen würde, wäre ich vielleicht im Knast gelandet. Es gab Zeiten, da war ich ein böser Bub.«
Aber 1980, als Theo im Rollstuhl landete, war auch Horst-Eberhard Richter mit seinen Studenten und Studentinnen bereits am Eulenkopf aktiv. Der weltbekannte Gießener Psychoanalytiker, der als Mitglied der Gruppe »Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs« mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, gab ab Anfang der siebziger Jahre den Bewohnern die Würde zurück, entfachte politisches Bewusstsein, gründete 1974 mit den Leuten aus der Siedlung den Athletikclub Eulenkopf (ACE) Gießen, der nach Innen als Treffpunkt und nach Außen als Sportverein eine wichtige Funktion übernahm. Dass Theo, vor seinem Unfall selbst ein herausragender Fußballer, zwei Jahrzehnte später den Namen in die (Kraftsport-)Welt hinaustragen würde (im wahrsten Sinne des Wortes), konnte da noch keiner ahnen. Aber nicht nur der Sport, vor dem Powerlifting versuchte er es mit Rollstuhlbasketball, »aber da war ich irgendwie zu wuchtig, die flogen immer links und rechts weg«, rettete ihm das zerbrochene Leben.
Horst-Eberhard Richter, Sozialphilosoph und großer alter Mann der deutschen Friedensbewegung, ist auch schon wieder seit mehr als zehn Jahren tot. »Manchmal frage ich mich noch, was Horst-Eberhard dazu sagen würde«, erzählt Theo über die nachgerade väterliche Prägung, die ihm nicht nur half, die massive Krise nach seiner Lähmung (»wie oft habe ich da gelegen, an die Decke gestarrt und überlegt, wie ich mich umbringen könnte«) zu bewältigen, sondern aus ihm auch einen politischen Menschen machte. »Ich bin ein Sozi«, sagt der SPD-Wahlkämpfer, der ein Mensch ist, den der blanke Zorn packt, wenn er rechte Parolen hört, wenn er Ausgrenzung oder Rassismus mitbekommt. Theo Strippel, der gerne Urlaub bei einem Kumpel in Brandenburg macht, fährt dann immer mal nach Berlin, wo Horst-Eberhard Richter begraben liegt. »Wir haben damals wie die Löwen für seine Ehrenbürgerschaft in Gießen gekämpft«, sagt Strippel, der Richters Wertesystem fest in sich verankert hat.
Theo Strippel wird 60, er hat eine Tochter, Marion, sie ist 41, und die Enkelinnen Blain (18) und Lea (12). Strippel lebt mit seiner Lebensgefährtin Kerstin im Heyerweg. Theo ist ein Familienmensch, durch und durch, aber auch einer, der den Wind um die Nase spüren muss. Irgendwie träumt er immer noch von den weiten Wäldern Kanadas, die er mit seinem Handbike durchstreifen möchte. Das glaubt man sofort, wenn man ihn durch die Wieseckaue brausen sieht. Das Handbike ist seit ein paar Jahren seine neueste Entdeckung, sein Freiheitsding. Wenn er mit seinen Oberarmen wie Baumstämme das Gefährt antreibt, fühlt er sich frei. »Rüdi, ich muss mich da auspowern«, sagt der Sport-Extremist, der nicht nur mittels Brust- und Armkraft ohne die abstützende Funktion der gelähmten Beine Gewichte in die Höhe hob, unter denen jeder Normalsterbliche zusammenklappen würde. Auch mit dem Handbike hat er schon 100 Kilometer an einem Tag gefahren, nur mit Muskelkraft. »Und wenn ich die Grünberger Straße durchziehe, dann jubele ich, wenn ich oben bin, ich brauche das.«
Theo Strippel ist immer noch ein Kraftpaket, voller Energie und Adrenalin. »Wenn ich das nicht rauslassen kann, werde ich unleidlich und grantig«, sagt er freimütig. Als wir vor vielen Jahren gemeinsam zur Powerlifting-WM in Luxemburg fuhren, er am Steuer, ich daneben, Tamara Althaus auf der Rückbank, waren wir auf der Suche nach der Halle ein wenig spät dran, Theo wurde nervöser und langsam zornig. Da will man dann gerne aussteigen. Man kann ihm aber auch danach die Meinung geigen. »Das gebe ich zu, da muss ich mich immer noch manchmal zurücknehmen«, weiß er um diese kleine Betriebsschwäche im großen Koordinatensystem des friedfertigen und gutmütigen Mannes, der auch bei mancher Ungerechtigkeit und (siehe vorn) rechten Sprüchen schnell auf 180 ist. Da will man nicht das Gegenüber sein.
Aber Theo Strippel mag auch den ruhigen Sound des Lebens, er hat den Blues, spielt Gitarre, kann grandios singen, hat sich das selbst beigebracht. Das macht er gerne. Oder an einem See sitzen und angeln, das ist das Kontrastprogramm zu den schweißtreibenden Sportaktivitäten, die ihn selbst auf Weltniveau gebracht haben und seine Athletinnen und Athleten wie allen voran Tamara Althaus, aber auch Sarah Zihms oder »Junior« Meier gleich mit. Das mittlerweile vor sich hin rottende Sportheim am Wendehammer des Eulenkopfs hat noch einen Raum, der so gut gepflegt wird, wie es eben geht. Den Raum der Kraftsportabteilung, wo Theo Strippel als Trainer seine ACEler fitgemacht hat. Pokale über Pokale, Medaillen, Urkunden. Wenn er was anpackt, dann macht er es richtig. Den Gießener Champion Cup hat er aus der Taufe gehoben - und ganz nebenbei ein zu jener Zeit deutschlandweit einzigartiges Konzept erfunden. In Gießen wurde die Veranstaltung inklusiv als Deutsche Meisterschaft für gehandicapte Sportlerinnen und Sportler ausgetragen, lange bevor »Inklusion« zum Modewort wurde, mit dem Politiker ihre Sonntagsreden schmücken.
Irgendwann im Winter 1999/2000 saß ich bei Theo Strippel in der Küche. Ein Anruf aus dem Dunstkreis des Nationalen Olympischen Komitees. Es ging um die Anzüge für die Paralympics im Sommer in Sydney. Da müsse sich bei der Durchgabe der Maße jemand verschrieben haben. Oder vielleicht vermessen. Das könne nicht stimmen mit dem Brustumfang. Solche Größen gebe es nicht. War aber nicht vermessen. Wer 240 Kilo nur aus Brust und Armen stemmt und dabei La Paloma pfeift, das geht ja nicht mit Hühnerbrust. Auch so eine Erinnerung. Wie an die gemeinsame Fahrt nach Bratislava. Viele Stunden bester Stimmung im Kleinbus. Es war die Welt- oder Europameisterschaft, die Erinnerung ist unklar. Auf alle Fälle spielt Tamara mit den Gewichten, die größten Rivalinnen aus Russland sind schon geschlagen, als die Gießenerin sich ihre Hanteln zum Warmmachen auflegen lässt. Drei Versuche, natürlich Gold - und hinterher zusammensitzen, feiern. Der Sport hat Theo Strippel das ermöglicht, was er sich als kleiner Junge gewünscht hatte. Er wollte raus in die Welt. Auch wenn es die Marine, der Traum von der großen Reise auf dem Schiff, nicht geworden ist. »Aber im Grunde war ich ja überall«, sagt er heute.
Überall, ja durchaus. Aber auch immer noch in Gießen. Am Eulenkopf. Der sich einerseits so verändert hat, dank Horst-Eberhard Richter, aber auch dank ihm, Theo Strippel, dessen Engagement dazu beitrug, dass »die da draußen beim Depot« in der Stadtgesellschaft ein Stück weit ankommen konnten und die Ghettoisierung und Stigmatisierung ein wenig aufgehoben, wenn auch nie ganz beendet wurde. Theo Strippel, der zwischenzeitlich auch eine Worscht-Bude betrieb, hat einen besonderen Sport in Gießen und mit diesem Gießen in der Welt bekannt gemacht. Er hat ganz nebenbei auch mit seinem Trainingsprogramm an den Gewichten Sozialarbeit betrieben, etliche Jugendliche gefördert, Selbstvertrauen gegeben, Jungs von der Gasse geholt. In drei Jahren, 2025, will er den letzten Champion Cup, den dann 25. ausrichten. »Dann ist Schluss« - und bald zieht er weg. Aus der Siedlung. Die 60 macht ihm keine Angst, aber er braucht nochmal eine Veränderung. Alles Gute, starker Mann.