Wer in diesen mittlerweile beinahe zwei Jahren gemerkt hat, dass das Trainieren zu Hause mehr Spass macht als im Studio, wird sich über das wachsende Angebot von Fitness-Spiegeln freuen: Diverse Anbieter wie Lululemon (nicht in der Schweiz verfügbar) oder Vaha stellen All-in-one-Systeme zur Verfügung, die nach eigenen Angaben den Gang ins Studio obsolet machen sollen.
Über schlanke High-Tech-HD-Touchscreen-Displays wählt man Live- oder On-Demand-Fitnesskurse, die ohne soziale Interaktion und in den eigenen vier Wänden absolviert werden können. Gleichzeitig kann man seine Bewegungen in der spiegelnden Oberfläche beobachten und korrigieren. Wird das Gerät nicht benutzt, ist es einfach ein normaler Spiegel.
Eine der bekanntesten Brands von Fitnessgeräten ist das amerikanische Unternehmen Nordic Track. Die Marke hat im Juni 2021 mit dem «Vault» auch ein All-in-one-Fitnesssystem lanciert. Im Vergleich zu den Modellen der oben genannten Marken wird der Vault jedoch nicht an die Wand gehängt oder mit einem Bodenständer aufgestellt. Er ist freistehend und verfügt über einen grosszügigen, integrierten Stauraum für diverse Heimfitness-Utensilien.
Eines vorweg: Überlegen Sie sich gut, ob Sie den Spiegel nach Hause holen wollen, wenn Ihre Wohnung über viele Dachschrägen verfügt und sich im dritten Stock befindet. Ohne Lift. Denn dieses 1,80 Meter hohe Gadget wiegt etwa 110 Kilogramm – ohne die unzähligen Hanteln und Kettlebells, die zur kompletten Version dazugehören.
Ist der Koloss einmal in der Wohnung, muss sich in der Nähe nur noch eine Steckdose finden lassen, dann kann der Spiegel aufgestellt werden. Den Standort sollte man bei diesem Gewicht auch gründlich überdenken, den «Vault» kann man nur schwer alleine wieder umstellen. Kleiner Tipp: Lassen Sie sich Spiegel und Zubehör unbedingt liefern. Fitness können Sie damit später noch genug machen.
Ein vollständig mit Trainingsutensilien gefüllter Spiegel, inklusive einer Trainingsmatte, zwei Yogablöcken, drei Loop-Bändern, drei Super-Widerstandsbändern, sechs Paar Kurzhanteln mit verschiedenen Gewichten, zwei Kettlebells und einem Reinigungstuch.
Hier wird der Spiegel ohne Inhalt geliefert, wonach er mit einem Preis von Fr. 4199.90 günstiger angeboten wird. Dieser eignet sich für alle, die bereits genügend Fitness-Zubehör zu Hause haben. Ob dieses auch in den benutzerdefinierten Verstau-Bereich des «Vault» passen, sollte vor dem Kauf abgemessen werden.
Bevor man mit dem Training beginnen kann, muss man sich bei iFit anmelden. Dies ist die Video-Workout-Bibliothek, auf der man unzählige Übungen in den Kategorien Kraft, Yoga, Erholung/Mobilität/Stretching und High-Intensity-Intervall-Training (HIIT) findet. Anschliessend wählt man sein persönliches Trainingsziel aus, zum Beispiel Gewichtsabnahme oder Ganzkörpertraining, und teilt Angaben zum Körper (Grösse, Gewicht) und momentanen Fitnessstand.
Je nachdem, wo man das Gerät kauft, ist im Lieferumfang eine kostenlose einjährige iFit-Mitgliedschaft enthalten. Dies ist etwa beim Kauf bei Jelmoli oder direkt über Nordic Track der Fall.
Das Abonnement kann jedes Jahr kostenpflichtig verlängert werden: Ein Einzel-User-Abonnement kostet 179 Franken, das Family-Abonnement, bei dem bis zu fünf Benutzer teilnehmen können, 500 Franken.
Der Vorteil: Man kann sie für alle Nordic-Track-Geräte benutzen, ebenso hat man auf dem Smartphone und dem Tablet Zugriff darauf. Ausserdem ist der Preis relativ niedrig, etwa im Vergleich zu einem Monatsabonnement bei Vaha, das ab 39 Euro erhältlich ist.
Nun wird trainiert. «Einführung in die Pilates-Serie auf den Bahamas mit Kelsey Sheahan» soll es heute sein. Das Workout, in dem eine braungebrannte, bis zu den Zehenspitzen perfekt geschminkte und top motivierte Trainerin unter Palmen und mit Meeresrauschen im Hintergrund ihre Übungen vorführt, passt zu diesem tristen Freitag. Regentropfen prasseln zu Hause auf das Dach, während motivierende Musik aus den im Spiegel integrierten Boxen dröhnt und Kelsey 22 Minuten lang ihre Pilates-Übungen im Sand vorführt. Währenddessen beobachtet man sich im Spiegel, wie man die Bewegungen der Personal-Trainerin auf dem Wohnzimmerteppich nachahmt.
Im Gegensatz zu anderen Spiegeln, die mit Sensoren ausgestattet sind, bietet der «Vault» keine personalisierte Korrektur der Ausführungen, keine Live-Kurse und auch keine persönlichen 1:1-Trainings. Dafür weisen die Instruktorinnen stets darauf hin, wo man Gefahr laufen kann, eine Übung nicht korrekt auszuführen. Und tatsächlich: Die Schultern sind wirklich zu weit oben.
Kelsey gibt zu jeder Übung detaillierte Anweisungen und motiviert. Auch wenn diese «Oh, it’s so good to see you here» oder «I can’t believe how well you do it» manchmal das Mass der sportlichen Aufmunterung überschreiten, machen die Videos Laune und regen spielerisch zu mehr Sport in den vier Wänden an – auch wenn man sich gerade nicht auf den Bahamas befindet.
Wer der englischen Sprache weniger mächtig ist, kann hier bemängeln, dass es kein Voice-over in Deutsch gibt. Übersetzt wird das Gesagte lediglich in den Unterzeilen, was während des Trainings weniger praktisch zu verfolgen ist, da man sich selbst und die Trainerinnen und Trainer beobachtet.
Die Übungen kann man ausführen, während der Spiegel geschlossen ist, oder man kann ihn in jeden beliebigen horizontalen Winkel drehen und anwinkeln, so dass man überall im Zimmer trainieren kann.
Weitere Pluspunkte bekommt der «Vault», da man kabellose Kopfhörer und Pulsmesser über Bluetooth verbinden kann. Diese Daten sowie die absolvierten Trainingseinheiten und die Fortschritte werden auf iFit gespeichert. So behält man immer den Überblick über seine Leistung. Ausserdem kann man sich über iFit mit anderen «Fitness Friends» verbinden, Workouts weiterempfehlen und an Competitions teilnehmen. Im Preis des Abonnements ist überdies auch der Zugriff auf (sehr gesunde) Rezepte und Wellness-Tipps enthalten.
Mit dem «Vault» zu trainieren, ist einfach nur genial. Ob man nun Lust auf entspannendes Yoga oder auf ein intensives Krafttraining hat: Bei dieser Bandbreite an Videos wird man immer fündig. Die Instruktionen werden verständlich vorgezeigt, die Auswahl ist sehr abwechslungsreich, und die Niveaus sind passend angegeben.
Da das professionelle Fitness-Equipment fast nur eine Armlänge vom Trainingsplatz entfernt ist und die Trainerinnen und Trainer die Vorgänge so detailliert erklären, probiert man auch gerne mal Übungen aus, an die man sich im Fitnessstudio nicht getraut hätte. Zudem beinhaltet kein anderer Home-Gym-Spiegel auf dem Markt eine so grosse Auswahl an Fitnesszubehör. So bekommt auch der grösste Sportmuffel Freude am Trainieren.
Auch wenn der Spiegel im Vergleich zu den anderen, schlankeren und weniger wuchtigen Modellen mehr Platz einnimmt, stört er aufgrund seines schlichten und modernen Designs kaum im Raum.
Dennoch gibt es zwei Dinge zu bemängeln. Wenn man sich auf seine Haltung und auf das Vorgezeigte konzentriert, kann es schnell passieren, dass man etwa die zu verwendenden Hanteln vergessen hat. Das Video kann man dann zwar pausieren, jedoch nicht vor- oder zurückspulen.
Dann wäre da noch der Preis des Spiegels: Für den komplett mit Trainings-Utensilien eingerichtete Spiegel bezahlt man satte Fr. 4799.80, für den Standalone Fr. 4199.90. Das ist definitiv eine Investition, die überdacht werden muss. Folglich sollte das Gerät schon drei bis vier Jahre benutzt werden, um die Kosten für ein Fitness-Abonnement zu kompensieren. Wer jedoch schon immer lieber für sich trainiert hat und nicht vor den Augen anderer, wird den Vault von Nordic Track noch viele weitere Jahre lieben und rege benutzen.
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