Jeder kennt jede und noch besser: Fast jeder singt, flötet oder zupft mit jeder. Wenn es ums gemeinsame Musizieren geht, ist Ötigheim kaum zu toppen. Deshalb ist es der beste „Landmusikort 2022“.
Was ist geil am Leben auf dem Land? Teenager werden jetzt nicht spontan „der Zupfmusikverein!“ rufen. Welcher 18-Jährige lässt schon im Jahr 2022 die Hantel fallen oder schält die Airpods aus dem Ohr für den Platz im Orchester neben den Mandolinen? Vom Fitnessstudio ist aber mit keinem Wort die Rede auf der Terrasse der Burkarts in Ötigheim. Auch nicht für die jüngste von drei dort versammelten Generationen, die für ihr Hobby im Wortsinn ganz andere Saiten aufziehen.
Hatte Sören Burkart als kleiner Junge Lust auf ein Zupfinstrument? Der 18-jährige Industriekaufmann sagt: „Es gab keine andere Wahl.“ Sein Opa Alois Becker schmunzelt. „Aber ich wollte auch gar keine andere Wahl gehabt haben“, fährt Sören Burkart fort.
Dann erzählt er von den üblichen Durchhängern, dem „im Endeffekt aber besten Hobby“, von den Leuten, den Orchestern, mit denen er unterwegs ist, dass seine besten Freunde aus dem Verein sind, von der letzten Konzertreise nach Venedig – und überhaupt: „Das ist schon extrem geil.“
Das Wunder von Ötigheim hat viele Tonarten. Ötigheim ist eine Gemeinde im Landkreis Rastatt und weithin bekannt für seine jährlichen Volksschauspiele. Mit seinen rund 5.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist das „Telldorf“ aber auch klein genug, um infrage zu kommen für einen Preis, den es ein Jahr später als erhofft und nur durch die List einer gewieften Standesbeamtin bekommen hat. Der Bürgermeister selbst – er war bis Mai ahnungslos.
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Ötigheim ist „Landmusikort“ und als solcher der beste von insgesamt 13, die der Deutsche Musikrat und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) in diesem Jahr auserkoren haben.
Beim Gütesiegel „Landmusikort“ geht es um das, was keine Großstadt mehr bieten kann: reges Engagement und einzigartigen Zusammenhalt über alle Vorgärten, Garagen und Gartenzäune hinweg in Sachen Musik. Ötigheim gefällt der Jury ganz besonders: „Die ganze Geschichte ist unglaublich!“
Maria Löhlein-Mader kommt aus Bruchsal, ist 66 Jahre alt, erfahrene Chorleiterin und in der Jury „Landmusik“, weil sie 19 Jahre im Präsidium des Landesmusikrats war, 13 Jahre im Präsidium des Deutschen Chorverbands, seit 26 Jahren im Präsidium des Badischen Chorverbands und seit 2000 dessen Vizepräsidentin. Diese Frau, die also schon viel gehört und gesehen hat, erklärt: „Das Miteinander über alle Generationen und Genres, wie es Ötigheim pflegt, sucht bundesweit seinesgleichen.“
Nach Beispielen muss man nicht lange suchen. In Straßen, benannt nach Blumen, Komponisten oder Dramen von Schiller, ist jede Türglocke gewissermaßen ein Knopf von Tausenden einer gigantischen Musikbox. Die Großfamilie Becker/Burkart wohnt mit etlichen Gitarren und Mandolinen nur ein paar Gehminuten neben der größten Freilichtbühne Deutschlands verteilt auf zwei Häuser. Sie alle haben Musik zum ambitionierten Hobby oder sogar zum Beruf gemacht und spielen im Mandolinen- und Gitarrenorchester.
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Familienoberhaupt Alois Becker hat seinen ersten Mandolinen-Unterricht gleich nach dem Weißen Sonntag im Jahr 1952 erhalten. Seine Frau Annemarie spielt bis heute mit ihm im Freizeitorchester. Tochter Ruth ist Musiklehrerin in Rastatt. Sohn Alexander forscht als Musikwissenschaftler im Max-Reger-Institut Durlach, spielt Mandoline und dirigiert das Hauptorchester. In dem sitzt seine Schwester, die Tanzpädagogin Heidrun Burkart, ebenso wie deren Kinder Inga und Sören, der wiederum wie Tante Ruth zu den Ausbildungsleitern gehört.
Was aber ist Landmusik? Und warum ist Ötigheim hierin so außerordentlich gut? Bewerben können sich jährlich alle Kommunen, Landkreise, Landgemeinden und Kleinstädte in Deutschland, die im ländlichen Raum liegen und nicht mehr als 20.000 Einwohner haben.
Gewürdigt wird damit unter anderem, dass die ehrenamtlichen und nachbarschaftlichen Initiativen auf dem Land größeres Gewicht haben als in der Stadt, wo die professionellen Akteure überwiegen. Die Projektförderung will all jene unterstützen, die Musik im ländlichen Raum erlebbar machen und die Identifikation der Menschen mit ihrer Region stärken.
Ötigheim bietet hierfür eine besonders schöne „Schieflage“. Die Zahl der Vereinsmitglieder ist mit rund 25.000 fünfmal so hoch als die Zahl der Einwohner. Das wiederum ist kein Wunder. Vielen geht es so wie Madita Lang. Die Achtjährige singt, turnt, flötet, spielt und kickt in gleich fünf Vereinen. Außerdem möchte sie gerne Klavier spielen, oder Querflöte, oder Gitarre, oder auch Saxofon. Und seufzt: „Nächstes Jahr muss ich was weglassen, Fußball oder Karnevalsclub.“
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Zuhause ist sie in bester Tradition. Ihre Mutter Sina Lang ist sogar der Musik wegen von Iffezheim nach Ötigheim gezogen. „Ich bin total happy. Hier findet man leichter Anschluss.“ Auf den Geschmack gekommen ist sie über eine Anzeige in der Zeitung, dass in Ötigheim ein Frauenchor gegründet wird. Ihre Mutter, Renate Maier-Lang, konnte sie ebenfalls für „BelleAmi“ gewinnen. Und die hat dabei ihr Herz verloren. An einen Sänger aus dem Männerchor im gleichen Verein.
„Ich sag genau wie es war“, erzählt sie mit leuchtenden Augen von der Chorreise nach Budapest vor 17 Jahren und ihrer zweiten Ehe dank „StimmKultur“. Nur der andere Enkel, Sinas Bruder Marlon, muss in Muggensturm „fremdgehen“. Er spielt nämlich Akkordeon. Und dafür hat Ötigheim ausnahmsweise mal keinen Verein.
Von der geselligen Laienmusik bis zum hohen musikalischen Anspruch ist die Bandbreite groß. Sieben der insgesamt 39 Vereine widmen sich der Kultur: die Volksschauspiele Ötigheim, die Gesangsvereine „StimmKultur“ und „Liederkranz“, der Cäcilienverein St. Michael, der Musikverein, der Ötigheimer Carnevalclub und last but not least das auf hohem Niveau musizierende Mandolinen- und Gitarrenorchester, das regelmäßig Preise beim Deutschen Orchesterwettbewerb absahnt. Auch Liste der Erfolge bei „Jugend musiziert“ ist immer gut gefüllt mit dem Ortsnamen Ötigheim.
Neun Erwachsenen- und drei Kinder- und Jugendchöre gibt es in dem Ort. Außerdem musizieren 120 Erwachsene und mehr als 200 Kinder und Jugendliche in acht Orchestern oder befinden sich in musikalischer Ausbildung. Etwa 300 junge Menschen sind in den Ballett- und Tanzgruppen der Volksschauspiele und des Carnevalclubs aktiv.
Übers Jahr finden in Ötigheim und der näheren Umgebung 80 bis 100 Konzerte vom Gottesdienst bis zum Seniorenzentrum statt. Und spätestens zu den Volksschauspielen kommen sie alle zusammen und füllen ihre Vereinskassen am Bratwurststand oder stehen zum Teil selbst auf der Bühne – wie Madita, die bei Wilhelm Tell ein Lied singt und vier Sätze spricht.
Die einen kommen für die Musik, die anderen würden niemals weggehen – wegen der Musik. Hans-Tobias Kühn ist so einer. „Wenn man in Ötigheim geboren wird, ist man auch gleich mit dem Vereins-Virus infiziert“, sagt der 65-jährige Mann, der seit 1972 im Liederkranz singt.
Von seinem Großvater, dem „Bass-Hannes“, erzählt man sich heute noch im Musikverein Ötigheim. Die Leidenschaft für die Musik hat der schon an seine Söhne vererbt. Sie blieb bis heute an Hans-Tobias hängen, der mit viel Freude jährlich am Faschings-Programm für die Prunksitzungen und somit am Spaßfaktor der Tellplatzlerchen mitstrickt.
Selbstredend hat er auch seine Söhne infiziert und fragt sich, wie lange die beiden mittlerweile flügge gewordenen jungen Männer es wohl noch ohne Vereinsleben in Mannheim und den USA aushalten. Seine Frau hat er als Teenager im Leichtathletikverein kennen gelernt. Natürlich in Ötigheim.
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