Joseph Romano (untere Reihe, 2.v.r.) und sieben weitere von den Terroristen ermordete Sportler, die ihre Heimat Israel nicht wiedersahen.
Bei den Olympischen Spielen 1972 in München überfielen palästinensische Terroristen der Gruppe "Schwarzer September" am 5. September das israelische Quartier im olympischen Dorf. Nach stundenlangen Verhandlungen und einer missglückten Befreiungsaktion der bayerischen Sicherheitsbehörden starben am Ende alle elf israelische Geiseln, fünf arabische Terroristen und ein deutscher Polizist.
Zum 50. Jahrestag des Olympia-Attentats sind viele Gedenkveranstaltungen geplant, unter anderem im Fliegerhorst Fürstenfeldbruck, wo die Befreiungsaktion 1972 scheiterte. Aufgrund der festgefahrenen Gespräche über die zu verhandelnden Entschädigungszahlungen wollten die Opferangehörigen bis zuletzt nicht daran teilnehmen. Nach wochenlangen Verhandlungen haben sich die Hinterbliebenen und die Bundesregierung einige Tage vor der Erinnerungszeremonie auf eine Zahlung von insgesamt 28 Millionen Euro geeinigt. Bei der Gedenkveranstaltung in München wird auch Shlomit Romano-Barzilay - die Tochter des ermordeten Gewichthebers Josef Romano - dabei sein.
Shlomit Romano-Barzilay hält die Erinnerung an ihren Vater und seine getöteten Sportskameraden am Leben.
ntv.de: In wenigen Tagen jährt sich der Anschlag auf die Olympischen Spiele 1972 zum 50. Mal. Wenn wir über München sprechen, was denken Sie darüber?
Shlomit Romano-Barzilay: Im Laufe der Jahre hat sich meine Beziehung zu München verändert. Mit 16 besuchte ich während eines Jugendaustauschs zwischen Israel und Deutschland zum ersten Mal das olympische Dorf. Ich habe damals viele Menschen getroffen und war positiv überrascht, denn im Laufe der Jahre lernten wir uns besser kennen, wurden Freunde und mit vielen stehe ich bis heute in Kontakt.
Haben Sie nicht trotzdem ein ambivalentes Verhältnis zur bayerischen Landeshauptstadt?
Es ist unmöglich, den Schmerz, den ich über all die Jahre zu Hause erlebt habe, von den Enthüllungen des Versagens der deutschen Behörden zu trennen. Einerseits kenne ich das mächtige, moralische Deutschland, wo alles seine Ordnung hat. Andererseits aber erlebte ich denselben Staat, der seinen moralischen Verpflichtungen für die Familien der Opfer von München nicht nachkam.
Bei der Ermordung Ihres Vaters waren Sie sechs Monate alt. Wann wurde Ihnen bewusst, wie er starb?
Als ich aufwuchs, waren die Geschichten über ihn allgegenwärtig. Von klein auf besuchte ich sein Grab und zahlreiche Gedenkveranstaltungen. Trotzdem hat meine Mutter mich und meine zwei älteren Schwestern mit viel Liebe und ohne Hass erzogen, auch wenn sie ständig über ihn und die Tragödie von München 1972 sprach. Doch erst als ich über 20 Jahre alt war und immer mehr vom Attentat an die Öffentlichkeit gelangte, erfuhr ich weitere Details vom kaltblütigen Mord an meinem Vater und dass die Terroristen sogar seine Leiche schändeten. Damit zu leben, ist sehr schwer.
Über das Attentat erschienen mehrere Bücher, Dokumentationen und Filme wie der Spielberg-Blockbuster "München". Wie emotional war es für Sie, jemanden zu sehen, der Ihren Vater spielte?
Das war schon ungewöhnlich, da ich ihn ja nie als erwachsene Frau traf und ihn nur aus Bildern, Video- und Tonbandaufnahmen kenne. Als ich noch klein war, lief eines Tages der Streifen "Die 21 Stunden von München" im Fernsehen. Nach all den Geschichten, die ich bis dahin gehört hatte, hoffte ich irgendwie, dass sie im Film vielleicht gerettet werden und sich alles zum Guten wenden würde.
Einer der palästinensischen Terroristen ist auf einem Balkon zu sehen.
(Foto: picture alliance / AP Photo)
Wenn man ohne Vater aufwächst, der von einer arabischen Terrororganisation ermordet wurde, spürten Sie Hass und Wut auf die Palästinenser?
Nein, nur gegen die Mörder und Hintermänner des Olympia-Attentats. Gegen das palästinensische Volk nicht. Wie jeder Mensch wollen sie ein normales Leben führen. Einige meiner Freunde sind Palästinenser. Wir alle wollen in Frieden leben. Leider gibt es viele politische Führer, die den israelisch-arabischen Konflikt aus verschiedenen Interessen immer wieder entfachen.
Mit den weiteren Angehörigen der Opfer von München 1972 gedenken Sie jedes Jahr des Olympia-Attentats. Wie ist es für Sie und Ihre Familie, wenn Sie Deutschland und München besuchen?
Ich war mittlerweile schon oft in Deutschland und bin dort auch sehr gerne. Ich empfinde keine Feindseligkeit gegenüber Land und Leuten und wurde auch nicht so erzogen. Wenn ich aber das olympische Dorf in München oder auch das Museum - das vor fünf Jahren eröffnet wurde - besuche, dann empfinde ich schon eine tiefe Trauer.
Auch Wut und Enttäuschung?
Ja, auch. Ich frage mich dort immer, wieso die deutschen Sicherheitsbehörden ihre Gäste nicht beschützen oder befreien konnten. Wieso wurden die verletzten Sportler nicht ausreichend versorgt? Wie konnte so etwas in einem modernen Staat wie Deutschland passieren?
Der Gewichtheber Joseph Romano durfte seine Tochter nicht aufwachsen sehen.
Welches Gefühl hatten Sie, als Sie vor einigen Wochen bei den "European Championships 2022" in München die siegreiche israelische Marathonmannschaft sahen?
Das hat mich natürlich sehr berührt. Irgendwie hat sich nach 50 Jahren ein Kreis geschlossen.
Ankie Spitzer, die Witwe des Fecht-Trainers André Spitzer, hat sich geschworen, dass sie niemals aufhören würde, über diese schreckliche Tat zu sprechen. Wie gehen Sie mit dem Erbe Ihres Vaters um?
Das Olympia-Attentat ist in Israel allgegenwärtig. Es wird viel darüber gesprochen und berichtet. Straßen und Schulen sind nach den Opfern benannt. Es ist großartig, was vor allem Ankie Spitzer und meine Mutter Ilana in den letzten 50 Jahren alles geschaffen haben. Kinder lernen darüber im Sportunterricht. In meiner Familie haben sich einige sogar die Hantel eines Gewichthebers am Handgelenk tätowieren lassen. Die Geschichten über das kurze Leben meines Vaters werden bei uns von einer Generation zur nächsten weitergegeben.
Bei den Spielen in London 2012 verzichtete das IOC auf eine Schweigeminute. Die Organisation "just one minute" forderte daraufhin, dies bei jeder Eröffnungsfeier zu tun. Wieso kam es erst letztes Jahr in Tokio dazu?
Ich verstehe nicht, dass wir nach all den Jahren darum bitten mussten. Diese Schweigeminute müsste bei jeder Eröffnungsfeier selbstverständlich sein, da das Attentat auf sogenanntem olympischen Boden passierte. Natürlich erinnern wir uns gerne an die wunderbaren Sportler mit all ihren Siegen und herausragenden Rekorden. Doch auch die unangenehmen Ereignisse, die zur Geschichte der Olympischen Spiele gehören, sollten nicht in Vergessenheit geraten.
Hat sich jemals ein deutscher Politiker bei Ihnen entschuldigt?
Deutschlands Präsident Frank-Walter Steinmeier, den wir als Freund ansehen, ist einer der wenigen, der Verantwortung übernahm und sich mit ganzem Herzen für eine gerechte Entschädigung für die Angehörigen der Opfer einsetzte.
Und von Verantwortlichen, die damals dabei waren?
Nicht, dass ich davon wüsste. Doch in letzter Zeit gibt es plötzlich immer mehr Menschen, die damals irgendwelche Anweisungen erhielten oder Informationen verheimlichen sollten. Wenn alle Akten des Olympia-Attentats veröffentlicht werden, wird es eine große Schande für Deutschland sein.
Haben Sie jemals Leute von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) getroffen, die wahrscheinlich an dem Angriff beteiligt waren?
Nein, aber mit PLO-Funktionären, die damit nichts zu tun haben, hätte ich kein Problem. Niemals aber könnte ich mit Menschen zusammenkommen, die an dem Attentat direkt oder indirekt beteiligt waren und Blut an ihren Händen haben.
Gab es damals keine Entschädigung von Deutschland?
Aufgrund der Verjährung hatten die Gesetze in Bayern gesiegt. Daraufhin gab es Verhandlungen mit der Bundesregierung, die den Hinterbliebenen 30 Jahre nach dem Anschlag eine Summe in Höhe von drei Millionen Euro zahlte. Das Geld wurde unter 25 Personen aufgeteilt, doch das meiste davon ging an die Gerichtskosten.
Es war damals keine Entschädigung, wie es ein moderner Staat in unserer heutigen Zeit tun sollte. Die Angehörigen der Opfer des Anschlags von Lockerbie erhielten 10 Millionen US-Dollar pro Person. Das Attentat von Olympia 1972 war ein Terrorakt, der international bewertet werden musste. Die Israelis waren ausländische Gäste, die nach München kamen und nicht ausreichend beschützt wurden. Wir wollten, dass Deutschland dafür Verantwortung übernimmt, und dies hatte seinen Preis. Eine Art von Entschädigung, die akzeptabel ist und nicht lächerlich.
Was glauben Sie, war der Grund?
Vielleicht eine Mischung aus Unverständnis für unser Leid sowie mangelnder Einsatz, wenn es um seine moralische Pflicht geht.
IOC-Präsident Thomas Bach im Jahr 2017 mit den Hinterbliebenen lana Romano, Witwe des bei der Geiselnahme ermordeten israelischen Gewichthebers Josef Romano (l.), und Anke Spitzer, Witwe des ermordeten israelischen Fechtmeisters Andre Spitzer.
Müsste Deutschland dann nicht auch für die Familien von anderen Terroranschlägen aufkommen?
Das ist ein bisschen wie vor der eigenen Verantwortung wegzulaufen. Denn bei allem Respekt, ein Anschlag wie bei Olympia 1972 mit dem Versagen und der unprofessionellen Befreiungsaktion der Sicherheitsbehörden hat es auf deutschem Boden nie gegeben. Dies kann man mit den weiteren Attentaten nicht vergleichen, denn in München hatte explizit Deutschland als Staat die Verantwortung für die Sicherheit der Olympia-Teams, auch wenn die Sportler von palästinensischen Terroristen ermordet wurden.
Sie und die weiteren Hinterbliebenen wollten die Gedenkfeier am 5. September in München wegen der konfliktbeladenen Verhandlungen über die Entschädigungszahlungen boykottieren. Was waren Ihre Forderungen an Deutschland und den Freistaat Bayern?
Wir forderten nichts Außergewöhnliches, sondern klare Maßstäbe. Eine Entschädigung nach internationalem Standard. Darüber hinaus politische Verantwortung zu übernehmen, im Rahmen einer Entschuldigung, sowie die Aufarbeitung der Geschehnisse durch eine Kommission deutscher und israelischer Historiker, die zu einer rechtskonformen Freigabe der Akten führen wird.
Was denken Sie über die Antwort, die der palästinensische Präsident Mahmud Abbas vor Kurzem in Berlin gegeben hat, nachdem er gebeten wurde, sich für München zu entschuldigen?
Das Wort "Holocaust" ist kein Begriff, den man einfach so erwähnt. Was sich der Palästinenserführer und ehemalige Finanzier des Attentats von München auf deutschem Boden erlaubt hat, ist ein Skandal. Ich glaube, die Relativierung des Holocaust ist in Deutschland sogar strafbar. (Anmerkung der Redaktion: Das ist richtig. Der Volksverhetzungsparagraf 130 StGB stellt die Billigung, Leugnung und Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen unter Strafe.)
Wie fanden Sie das Verhalten von Bundeskanzler Olaf Scholz?
Das hat mich noch mehr verärgert und traurig gemacht. Wieder einmal zeigte die deutsche Regierung die falsche Reaktion und dass sie nichts gelernt haben. Der Bundeskanzler hätte Abbas sofort zurechtweisen müssen, dass man in seinem Land nicht so über den Holocaust sprechen darf. Genau wie vor 50 Jahren war Deutschland auch heute nicht auf palästinensischen Terror vorbereitet, auch wenn es dieses Mal nur verbal war. Ich denke, mit dieser Relativierung hat Abbas in erster Linie seinem Volk geschadet. Denn er hatte in Berlin die Möglichkeit, sich zu entschuldigen und sagen, dass Gewalt niemals die Lösung ist. Wie 1972 sucht er wieder den falschen Weg.
Erst wenn die ganze Wahrheit ans Licht kommt, wird sich eine Lücke im Herzen schließen und das Leben irgendwie "normal" weitergehen.
Auch der Glaube an den olympischen Eid?
Mit Shlomit Romano-Barzilay sprach Tal Leder