W as die Masse sagt, das kümmert Candace Puopolo herzlich wenig. Die Amerikanerin lässt sich nichts diktieren, unterwirft sich keiner gesellschaftlichen Norm, auch wenn sie der eine oder andere Zeitgenosse bisweilen schräg von der Seite mustert. Candace Puopolo ist 34 Jahre alt, 158 Zentimeter klein und im Gegensatz zu früheren Zeiten kein zartes Persönchen mehr – sie hat sich viele harte Muskeln antrainiert.
Sechzig austrainierte Kilogramm bringt sie mittlerweile auf die Waage, jeder ihrer muskulösen Arme und sogar ihr Dekolleté ist zugepflastert mit Tattoos, die langen Haare rot gefärbt, ihr Lachen klingt rau und herzlich. Ein Energiebündel, der Gegenentwurf zu einem Püppchen. „Ich hätte früher gegen mich selbst rebelliert, hätte ich gekonnt“, sagt sie und schmunzelt.
Candace Puopolo ist eine erstaunliche Frau. Eine, die gleich zwei Männerdomänen durchbricht: Als gefeierte Frontfrau der Hardcore-Band Walls Of Jericho ist sie in dieser Szene am Mikro fast allein unter Männern. Außerdem stemmt sie Gewichte, die ihr niemand zutrauen würde – Puopolo ist eine leidenschaftliche und erfolgreiche Powerlifterin, einer Dreikampf-Disziplin aus Kniebeugen, Bankdrücken und Kreuzheben.
„Ich wollte nie schwach sein – weder physisch noch psychisch“, betont die Mutter einer dreieinhalbjährigen Tochter. Das alles hat einen ernsten Hintergrund und ein hehres Ziel als Antrieb. „Ich möchte dabei helfen, etwas zu bewegen, die Dinge zum Guten verändern“, sagt sie.
Im Kampf gegen Vorurteile und Konventionen ist Puopolo mehr als konsequent. „Mein Mann und ich haben uns vor ein paar Jahren entschlossen, einen weiteren Traum zu verfolgen – und zogen von Boston nach Ohio“, sagt sie. Der Grund ist sportlicher Natur: Das Paar wollte dort von den besten Powerliftern lernen und sich ihrem Sport voll und ganz verschreiben. Sechsmal pro Woche trainiert die Sängerin deshalb heutzutage, und selbst auf einer Tour mit ihrer Band nimmt sie sich immer wieder die notwendige Zeit fürs Fitness-Studio und für das Gewichtestemmen.
Dass aus der zierlichen Person eine Frau mit Muskeln geworden ist, die so manchen Kerl vor Neid erblassen lässt, ist eine logische Konsequenz. 200 gewaltige Kilogramm kann sie mittlerweile aus einer vorn übergebeugten Position vom Boden hochheben (Kreuzheben), das ist US-Rekord in ihrer Klasse. „Mein großes Ziel ist es, irgendwann den Weltrekord zu knacken“, gesteht sie, „der liegt bei 232 Kilogramm.“
Auch weil es ihr möglich ist, Grenzen zu sprengen, fasziniert sie diese Sportart. „Mein Ziel ist es, einen stärkeren Willen zu haben, einen stärkeren Körper. Mich kümmern keine Kommentare, die mir bedeuten, ich sei nicht mehr feminin genug.“
Puopolo sitzt im Backstage-Bereich des Event-Werks in Dresden, noch fünf Stunden bis zum Konzert vor 2000 Fans des harten, brachialen Sounds. Die Powerfrau wirkt lässig, keine Spur von Anspannung im kraftstrotzenden Körper. Walls Of Jericho ziehen bereits seit 17 Jahren durch die Lande, gehören zu den bekannten Namen der Szene – vor allem dank ihr, der unverwechselbaren Frontfrau.
Später an diesem Abend wird sie über die Bühne rennen, gewaltig springen, ins Mikrofon schreien und mit der Urgewalt ihrer Musik über die Masse hereinbrechen. Wütend und brutal kommen die Songs daher, erstaunlich, welche Energie diese kleine Frau verströmt.
Doch es gibt auch diese eine, ganz ruhige, melancholische Platte „Redemption“ – in Gedenken an ihre verstorbene Mutter. Wie in ihrem Sport gilt für Puopolo in der Musik einzig der eigene Anspruch, keine vorgefertigten Meinungen, keine Schubladen.
Nur wenn es darum geht, was sie kurz vor dem Konzert am liebsten noch machen möchte, dann wird die nach außen so taffe Frau ganz zart. Und sagt: „Meine kleine Tochter sehen“. Mehr als 7000 Kilometer liegen gerade zwischen Mutter und Kind, zehn Tage haben sie sich nicht gesehen. Skype hilft eben nur bedingt.
„Ich liebe Musik und dass ich durch sie die Welt sehen darf, aber ich bin eben auch leidenschaftliche Sportlerin und vor allem Mutter“, unterstreicht sie noch einmal. Dabei hat das Powerlifting die Musik als primäres Ziel ihrer Ambitionen längst abgelöst. Obwohl sie Band und Tourleben nicht missen möchte, gehören ausgedehnte Konzertreisen mittlerweile der Vergangenheit an: zehn Tage am Stück, zwei- bis dreimal im Jahr, mehr geht und will Puopolo nicht. Auch weil sie die Sache mit dem Powerlifting sehr ernst nimmt. Rock ’n’ Roll mit wenig Schlaf, viel Alkohol und ungesundem Essen ist da nicht zuträglich.
Candace Puopolo betreibt ihre Passion Sport dabei auch für andere – für krebskranke Kinder. Sie ist ein Teil von Relentless, einer Organisation, die Kindern mit lebensbedrohlichen Erkrankungen und deren Familien hilft. Einmal im Jahr wird dafür unter anderem ein großes Powerlifting-Event veranstaltet. Der Erlös kommt den kleinen Patienten zugute. „Wer kann denn dagegen etwas sagen? Ich mache das, was ich liebe, und nutze es noch dazu, die Welt dieser Kinder zum Positiven zu verändern.“
Dass ihr der Job als Hardcore-Sängerin den Weg geebnet habe, zu ihrer Leidenschaft, dem Powerlifting, führt sie noch aus. „Es hat mir das kleine Extra gegeben“, sagt Candance Puopolo. „Dieses Wissen: Ich kann mich überall durchkämpfen, egal was kommt.“ Und damit meint sie nicht nur Gewichte, sondern jegliche Hindernisse, die es zu überwinden gilt.
Davon hatte sie besonders in ihrer Kindheit und Jugend recht viele. Puopolo war ein Teenager, der Vater gerade gestorben, die Mutter süchtig nach allem, was sie in die Finger bekam. Die Mutter brachte gewaltbereite Männer mit nach Hause. „Ich war zerstört und fühlte mich alleine. Hardcore hat mir ein Zuhause gegeben“, erzählt die 34-Jährige.
Das wollte sie zurückgeben. Doch als Frontfrau von Walls Of Jericho schlug ihr anfangs von vielen Seiten Unverständnis und Skepsis entgegen. Was macht die Frau da? Ein Gimmick? Kann man die überhaupt ernst nehmen? „Es hat mich verletzt, aber es hat mich auch stärker gemacht. Ich war einfach eine wütende Person, die viel durchgemacht hatte und das mit der Welt teilen wollte. Niemand durfte mir erlauben, nicht Teil einer Szene zu sein. Einfach nur, weil ich eine Frau war.“
Candace Puopolo blieb. Und sie singt – besser: schreit – heute noch von Themen wie häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch, darüber, positiv zu bleiben, die eigene Einstellung zu ändern, seinen eigenen Weg zu gehen und an sich selbst zu glauben. „Du darfst nicht zu dem Menschen werden, in den dich andere gerne verwandeln würden. Das ist schwierig, aber eine starke Frau bleibt sie selbst.“ Auch ihrer Psyche und ihren moralischen Maximen hilft das Powerlifting.
„Du wirst ja auch immer wieder herausgefordert. Um voranzugehen, brauchst du Energie“, sagt sie. Mit Hardcore-Musik und Kraftsport lädt sie ihre Batterie. Besonders für ihr wichtigstes Projekt, die dreieinhalbjährige Tochter Patsy.
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